Die Filme Quentin Tarantinos scheinen weitgehend spoilerresistent. Wenn ich etwa weiss, dass die Figur von John Travolta in der Mitte von Pulp Fiction umgelegt wird, nur um dann später wieder aufzutauchen, ist mir zwar ein wesentliches Element des Plots bekannt, das Erlebnis des Films tangiert das aber kaum. Der eigentliche Clou von Tarantinos Zweitling liegt nicht in der Handlung, sondern in der Art und Weise, wie diese erzählt wird. Damit illustriert der Film treffend, wie kurzsichtig die Spoilerpanik oft ist, denn sie reduziert einen Film auf eine stringent nacherzählbare Geschichte und blendet die ästhetischen Mittel, derer sich ein Regisseur bedient, komplett aus. Ein Film schrumpft so zur simplen Zusammenfassung seiner Handlung zusammen.
Gerade im Fall eines Regisseurs wie Tarantino greift dies zu kurz. Denn Tarantino ist zwar ein Meister im Entwerfen einzelner Szenen – besonders Dialogszenen –, im Zeichnen von skurrilen Figuren, im Setzen von Überraschungs- und Schockeffekten, der grosse dramatische Bogen ist aber seine Sache nicht. Die Handlung seiner Filme ist oft extrem simpel, und seine Kunst liegt nicht zuletzt darin, dass er dies durch die Erzählweise gekonnt verschleiert. Die von ihm so geliebte Einteilung in Kapitel, die Zeitsprünge, die abrupten Stimmungs- und Tempowechsel täuschen oft darüber hinweg, dass der Plot nicht sonderlich viel hergibt. Tarantino interessiert sich weitaus mehr für das Erzählen als für das Erzählte.
Auf den ersten Blick scheint The Hateful Eight diesem Muster gar nicht zu entsprechen, denn das Setting erinnert an ein klassisches Whodunit: Acht Männer, einer davon ein Kopfgeldjäger mit der steckbrieflich ausgeschriebenen Daisy Domergue im Schlepptau, sind in einer Postkutschenstation eingesperrt, ein Blizzard zwingt sie, die nächsten Tage gemeinsam zu verbringen. An Konfliktpotenzial fehlt es nicht, zumal sich schnell abzeichnet, dass hier so einiges nicht stimmt. Niemand scheint die Wahrheit zu sagen, und die zentrale Frage ist, wer mit wem intrigiert – und mit welchem Ziel.
Das Set-up ist ein klassisches Huis clos, das an Krimis wie The Mouse Trap oder Murder on the Orient Express erinnert; entsprechend wird auch in vielen Rezensionen der Vergleich mit Agatha Christie bemüht. Das mag überraschen. Geht es beim klassischen Krimi nicht mehr als bei jedem anderen Genre um ein raffiniertes Handlungsgerüst mit zahlreichen Sackgassen und Twists? Ist Tarantino doch noch zum grossen Plotbauer geworden?
In einem mittlerweile klassischen Text beschreibt der Literaturwissenschaftler Tzvetan Todorov den klassischen Krimi à la Christie oder Arthur Conan Doyle als rückwärtsgewandte Doppelstruktur. Damit bringt er zum Ausdruck, dass der Krimi typischerweise am Ende beginnt – mit dem Entdecken der Leiche – und der Detektiv primär damit beschäftigt ist, den Tathergang zu rekonstruieren. Es werden also immer zwei Geschichten erzählt: die der Aufklärung und innerhalb dieser die Vorgeschichte, die zum Mord geführt hat. Der Thriller dagegen ist vorwärts gerichtet, sein Interesse gilt dem, was geschehen wird.
Es ist wohl kein Zufall, dass der klassische Krimi im Kino heute praktisch inexistent ist und dass moderne Fernsehkrimis wie Tatort meist mit Thriller- und Actionelementen angereichert sind, denn in seiner Reinform besteht das Murder Mystery primär aus Szenen, in denen Figuren von Dingen erzählen, die bereits geschehen sind. Zugleich wird auch klar, was Tarantino an dieser Form gereizt haben dürfte: Sie bietet reichlich Gelegenheit für ausufernde Dialoge. Jede Figur muss ihre Geschichte zum Besten geben, und wir als Zuschauer müssen stets von neuem abwägen, was wir davon glauben können.
Für Todorov ist der Krimi eine Art Metagenre, in dem der Detektiv zum Leser wird, der sich aus den Hinweisen eine kohärente Geschichte basteln muss. Das eigentliche Thema des Krimis ist somit das Erzählen selbst. Dass sich Tarantino dessen genau bewusst ist, zeigt sich spätestens, als sich zu Beginn des vierten Kapitels unvermittelt eine allwissende Erzählerstimme meldet und uns darüber aufklärt, dass einer der Anwesenden soeben den Kaffee vergiftet hat. Damit wird nicht nur eine klassische Suspense-Situation geschaffen – wer nimmt sich von dem tödlichen Getränk? –, auch die Krimistruktur mit ihrem doppelten Erzählen wird explizit gemacht. Das folgende Kapitel setzt dann noch einen drauf: Tarantino vollzieht einen seiner sehr berüchtigten Zeitsprünge, setzt am Morgen des gleichen Tags ein und zeigt uns, wie vier Gangster die Station in ihre Gewalt bringen, um Daisy Domergue zu befreien. Nun, da die Vorgeschichte vollständig aufgerollt ist, sind die Genreanforderungen erfüllt, und der Film kann zu seinem Ende kommen. In einem Punkt weicht Tarantino freilich deutlich von der klassischen Struktur ab. Sein Film beginnt mit drei Leichen, die sich für die restliche Handlung allerdings als irrelevant erweisen, und endet erst, als restlos alle Figuren tot sind.
Erschienen im Filmbulletin 1/2016.
Mord in der Postkutschenstation in der Internet Movie Database.
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